Zur Lage in Tschechien – ein Brief von Lukas Gutmann von Ende März und April 2020

Dieser Brief in zwei Teilen ist die ungekürzte Fassung des Textes, den Lukas Gutmann uns auf unsere Bitte hin schrieb. Im Gemeindebrief musste sein Beitrag leider gekürzt werden.

 

Dobrovice, den 22.3.2020


Liebe Rohrauer,
derzeit absolviere ich mein Auslandssemester bei Skoda in Tschechien, dem einzigen aus Tschechien stammenden Automobilhersteller.
Der Hauptsitz der Firma, in welchem neben mir noch ca. 34 000 weitere Personen beschäftigt sind, befindet sich in Mladá Boleslav (Jungbunzlau), einer 45.000 Einwohner großen Stadt, welche sich ca. 50 km nordöstlich von Prag befindet.
Ich wurde mit zwölf anderen Praktikanten in einem Haus etwas außerhalb von Mladá Boleslav, in einem kleinen Dorf namens Dobrovice untergebracht. Landschaftlich unterscheidet sich die Gegend nicht sehr stark von der unseren, allerdings liegt der Lebensstandard etwas unter dem, was man bei uns Durchschnitt nennen würde. Auch unser Dorf ist etwas ärmlicher.Auf Bitte des Gemeindebriefteams hin versuche ich einen kleinen Einblick in den tschechischen Alltag, bzgl. den Alltag unter dem derzeit um sich greifenden COVID-19 Virus zu geben.
Da ich selbst erst seit Anfang März im Land bin, kann ich Ihnen bis heute tatsächlich nur über eine kurze Zeitspanne berichten, in welcher sich aber viel veränderte.
Was ich allerdings vorab sagen kann ist, dass die tschechische Regierung sehr gut reagiert hat und über die letzten Wochen immer sehr schnell und entschlossen handelte.
Als ich am 1. März in Tschechien ankam, hat sich dort noch niemand ernsthaftere Gedanken wegen des Corona Virus gemacht. Die Leute gingen unbehelligt ihrer Arbeit nach, auch wenn bereits wahrgenommen wurde, wie sich die Lage in Deutschland, Italien und anderen europäischen Ländern entwickelte. In Tschechien fühlte man sich bisher relativ sicher, was vermutlich auch daran lag, dass es hier noch keine Infektionen gab.
Mein Chef hat sich in meiner ersten Woche noch köstlich über leere Supermärkte und die „Toilettenpapier-Hysterie“ der Deutschen amüsiert, was zu dieser Zeit noch viele Tschechen taten.
Doch schon Anfang/Mitte der zweiten März-Woche, als es in Tschechien noch nicht besonders viele bestätigte Infektionen gab, erließ die Regierung erste Beschränkungen.
Zu diesen Maßnahmen gehörten Schul- und Universitätsschließungen, die Bitte an die Bürger zuhause zu bleiben, außerdem wurden Veranstaltungen mit über hundert Teilnehmern untersagt und die Grenzen wurden geschlossen.
Ab diesem Zeitpunkt wurde die Lage auch in Tschechien ernster und man konnte ein Umdenken bezüglich COVID-19 wahrnehmen, was teilweise auch in Angst umschlug.
Einige meiner Mitbewohner mussten Situationen erleben, welche sich am besten mit „Corona-Rassismus“ beschreiben lassen. Auch ich konnte beispielsweise während des Einkaufens feststellen, dass ein größerer Bogen um deutschsprachige Personen gezogen wurde als noch in der Woche zuvor. Für mich persönlich war dies nicht weiter schlimm und ich nahm es niemandem übel, vielmehr konnte man anhand dieser Reaktionen die langsam wachsende Angst der Tschechen beobachten.
Am Samstag, den 14. März wurden dann öffentliche Einrichtungen jeglicher Art geschlossen, die einzigen Ausnahmen wurden für „lebenswichtige“ Einrichtungen wie Tankstellen, Supermärkte, Drogerien und Apotheken gemacht.
Am selben Tag besichtigten wir die Altstadt von Mladá Boleslav, welche einer Geisterstadt glich, man sah kaum Menschen in den Straßen und nichts hatte geöffnet, kein Café, keine Bar, kein Restaurant, die Menschen blieben weitgehend zuhause.
Später an diesem Tag wurde dann bekanntgegeben, dass ab Montag, dem 16. März eine achttägige landesweite Quarantäne gilt, während welcher man das Haus nur verlassen dürfe, um eine der oben beschriebenen lebenswichtigen Einrichtungen zu besuchen, um arbeiten zu gehen oder um allein spazieren zu gehen.  Im Laufe der dritten März-Woche wurde es für jeden Bürger Pflicht, einen Mundschutz zu tragen oder zumindest Mund und Nase mit Stoff zu bedecken, sollte man das eigene Haus verlassen.
Da man auch in Tschechien mittlerweile keine Schutzmasken mehr erwerben kann, musste ich auf zweiteres zurückgreifen. Des Weiteren wurden Veranstaltungen und Ähnliches auf 30 Personen beschränkt.
Außerdem hat Skoda sich am 18. März dazu entschlossen, alle drei tschechischen Werke zu schließen, um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen. Dies hat zur Folge, dass tausende Angestellte bis zum 06. April zwangsbeurlaubt werden, wovon auch wir Praktikanten betroffen sind
Da wir das Haus erstmal nicht verlassen dürfen und wir alle zwangsbeurlaubt sind, versuchen wir uns die Zeit mit Gemeinschaftsspielen, Kochen und anderen Dingen zu vertreiben. Allerdings sehen wir alle sehr langen zweieinhalb Wochen entgegen und wir sind der Meinung, dass sich diese zwei Wochen noch ausweiten werden, was uns in unserer Langeweile nicht gerade beflügelt.
Im Großen und Ganzen gehen die Tschechen sehr gut mit der Situation um, und es ist noch zu keiner Panik oder Hysterie gekommen, welche man mit der Situation in Deutschland vergleichen könnte. Die Supermärkte sind wie immer im Überfluss bestückt und auch an Toilettenpapier mangelt es nicht.
Ich denke, dass die frühen drastischen Maßnahmen der tschechischen Regierung möglicherweise Wirkung zeigen könnten und man die Ausbreitung hierzulande verlangsamen kann. Stand heute am 22. März haben wir in Tschechien 995 bestätigte Infektionen, aber noch keine Toten.
Ich hoffe ich konnte Ihnen einen kurzen Einblick in den tschechischen Alltag geben und Ihnen die derzeitige Lage kurz wiederspiegeln. Ich wünsche in diesen Tagen alles erdenklich Gute, bleiben Sie ruhig, besonnen und gesund.
Viele Grüße
Lukas Gutmann

Dobrovice, den 28.4.2020  

Seit dem ersten Teil meines Berichtes sind nun einige Wochen vergangen, und ich erhielt die Bitte noch ein paar Zeilen zu schreiben, um den mittlerweile aktuellen Stand abzubilden. Heute haben wir den 28.04.20, und ich durfte gestern nach sechs langen Wochen in Zwangsurlaub/Quarantäne wieder zur Arbeit gehen.
Der Zwangsurlaub wurde, wie schon gesagt, anfangs bis zum 06.04. verhängt. Er wurde aber jede Woche bis hin zum 27.04. verlängert. Während der ersten zwei Arbeitswochen gelten noch sehr strenge Vorsichtsmaßnahmen, welche bei Bedarf auch ausgedehnt werden. Es dürfen z.B. immer nur zwei Personen gleichzeitig in einem Büro sein und es dürfen nie mehr als 50% des Teams anwesend sein. Außerdem muss immer noch kontinuierlich ein Mundschutz getragen werden.
Am 27.04. endete dann auch die zu Anfang „achttägige“ landesweite Quarantäne, welche über Wochen immer weiter ausgedehnt wurde. Das öffentliche Leben ist auch nicht mehr komplett lahmgelegt wie zu Anfang, seit gestern haben bestimmte kleine Läden wieder offen und auch die Zoos öffnen unter bestimmten Bedingungen wieder ihre Pforten.
Von Seiten der Regierung werden weitere Lockerungen diskutiert und man will wieder Stück für Stück zur Normalität zurückkehren.
Die anderen Praktikanten und ich verbrachten die letzten sechs Wochen weitgehend in Isolation. Wir verließen das Haus tatsächlich nur um spazieren zu gehen, was max. in Gruppen mit bis zu zwei Personen erlaubt war, oder für den Gang in den Supermarkt, welcher zum absoluten Highlight wurde. Dies waren für uns die einzigen Gründe, das Haus zu verlassen. - Ich war noch nie so viel spazieren.
Manche Praktikanten aus unserem Haus hatten Glück und konnten sich Ausnahme-regelungen organisieren, um im Home-Office zu arbeiten, was für uns normalerweise verboten war. Da Kollegen aus meiner Abteilung allerdings in Kurzarbeit waren, konnte mein Vorgesetzter dies leider nicht genehmigen, also hieß es abwarten und nichts tun. Und aufgrund meines Praktikantenvertrages habe ich über die komplette Zeitspanne, in welcher ich nicht arbeiten durfte, kein Geld verdient.
Die Hauptbeschäftigungen, welchen wir einzeln oder in Gruppen nachgingen, um uns die Zeit im häuslichen „Gefängnis“ etwas erträglicher zu gestalten, waren kochen, Karten spielen, lesen, netflixen und im Garten Sport treiben. Das Schauen der Serie „Game of Thrones“ wurde zum täglichen Ritual, wobei wir uns jeden Abend um 19:30 Uhr im Zimmer eines Mitbewohners trafen und zu sechst alle acht Staffeln ansahen. Alledem zum Trotz hatten wir sehr viel Langeweile und dadurch auch viel Zeit, um über uns selbst zu reflektieren, was in unserer sonst so schnelllebigen Welt nicht immer ganz so einfach ist.
Wir alle freuen uns sehr darauf wieder in die Normalität zurückzukehren, wobei man auch hier noch nicht sagen kann, wann es soweit ist und wie es die nächsten Wochen weitergeht. Für mich persönlich ist die Wiederaufnahme meines Praktikums ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Stand heute gibt es in Tschechien knapp 7500 bestätigte Infektionen, rund 2800 genesene Patienten und 223 Todesfälle. Aufgrund der aufgehobenen Quarantäne und den in Aussicht stehenden Lockerungen bzgl. des öffentlichen Lebens bleibt die Situation allerdings spannend.
Ich wünsche Ihnen allen viel Durchhaltevermögen und Geduld, bewahren Sie einen kühlen Kopf und bleiben Sie gesund.
Liebe Grüße aus Tschechien
Lukas Gutmann
Herzlichen Dank, lieber Lukas, für Deinen so eindrücklichen und interessanten Brief.